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Karfreitagsmeditation: Umzingelt und verlassen

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„Und sie werden auf den blicken,
den sie durchbohrt haben“

(Sacharja 12,10)


Chernihiv, Ukraine:
Die Stadt ist umzingelt.
Eingekesselt von russischen Truppen.
Die letzten Brücken sind zerstört.
Es kommen keine Zivilisten mehr raus
und keine Lebensmittel mehr rein.
Vom Himmel fallen die Raketen.
150.000 Menschen sitzen fest.
Wir schreiben das Jahr 2022.
Es ist Ende
März.

Am Ende seines Kreuzweges
sieht auch Jesus sich umzingelt.
Buchstäblich aufs Kreuz gelegt
sehen wir, was er sieht.

Der Soldat, der zum Henker wird, ist gesichtslos.
Gepanzert nicht nur sein Körper, sondern auch sein Mitgefühl.
Wie sonst könnte der Hammer jeden Moment niedersausen?
Ungerührt, das Rädchen einer anonymen Mordmaschine.

Nur seine Arbeit verrichten, nur Befehlen folgen.
Kein Blick für die Opfer, für die Folgen.
So verkommt der Mensch zum Werkzeug des Todes.
Und keiner weit und breit, der ihm Einhalt gebietet.

Sie sind alle da:
die, die johlen und sich am Schauspiel ergötzen;
wie auch die, die es nicht ertragen und die Augen verschließen.
Die, die ratlos sind und in Schriftrollen nach Antworten suchen,
wie auch die, die sich schämen und die Hände vors Gesicht schlagen.
Die, die einfach gaffen mit regungslosem Blick aus toten Augen,
wie auch die, die nachdenklich, traurig und betroffen scheinen.

So stehen sie alle beieinander.
So lassen sie es geschehen.
So werden sie schuldig.
Jedes Mal.

Aber das Schlimmste:
In ihrer Mitte verbirgt auch Gott sein Antlitz.
Die Sonne am Himmel verdunkelt sich und wird schwarz.
Wo zwei oder drei im Namen des Tötens versammelt sind,
da kann ich nicht mehr sein, so scheint die bittere Botschaft.

In der Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab
lässt der Dichter Jean Paul „nach dem göttlichen Auge aufblicken“,
und doch nur eine starrende „leere bodenlose Augenhöhle“ finden.
Es ist der Blick Jesu in diesem Moment.

Die verdunkelte Sonne ist zur schwarzen Pupille geworden.
Der Himmel starrt leer und teilnahmslos zurück.
Von hier führt ein Weg nur noch zum verzweifelten Schrei:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Was aber bleibt,
wenn Gott nicht bleibt?

Den Luxus, sich diese Frage achselzuckend lässig vom Leib zu halten,
kann sich kein Opfer von himmelschreiender Gewalt leisten.
Die Antwort macht den ganzen Unterschied.
Der Gott am Kreuz wird zur letzten Hoffnung.

Chernihiv, Ukraine:
Inzwischen haben sich die russischen Truppen zurückgezogen
und das ganze Ausmaß des brutalen Angriffs wird offenbar.
Zerstörte Straßenzüge und geplünderte Wohnungen,
exekutierte Zivilisten und traumatisierte Überlebende.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du uns verlassen?“

Die Antwort lässt auf sich warten.
Ostern ist zu weit weg.
Nur ein Trost bleibt heute:
Der Ruf der Verlassenheit
ist Christus nicht fremd.

Zitat:

„Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ‚Vater, wo bist du?‘ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Westen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Misstöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!“

Jean Paul, ‚Die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei‘

1 Kommentar

  1. Schmerz, Verlassenheit, der Zweifel – bis zur letten Sekunde Versuch des Teufels –
    ‚mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen‘ aber dann sofort:
    ’nicht mein sondern Dein Wille geschehe‘ – Sieg ueber Satan.

    Eine ergreifende Betrachtung am Karfreitag.
    Aber hilfreich in vielen Leidenssituationen der Welt und Situationen
    persoenlichen Karfreitags,

    Danke, Andreas


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