„Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt,
das habt ihr mir getan.“
(Mt 25,40)
In unserer Welt
gibt es Täter und Opfer –
und Zuschauer (oder Wegschauer).
Am Kreuzweg Jesu stehen Frauen – und weinen.
Weil sie das Leid und die Tortur eines Menschen mitansehen müssen?
Weil sie wissen, dass auch dieser Mensch der Sohn einer Mutter ist?
Weil sie diesen Menschen kennen und ihm verbunden sind?
Im Evangelium haben die Frauen keine Namen.
In der Tradition aber tritt eine von ihnen hervor,
belässt es nicht beim Lamentieren,
und reicht Jesus ein Schweißtuch:
Veronica.
Aufhalten kann sie den Lauf der Dinge nicht.
Aber sie vermag die Ohnmacht zu überwinden
und in einen Akt der Menschlichkeit
dem Leib Jesu Linderung zu verschaffen
und seiner Seele Beistand zu schenken.
Veronicas Gewand ist feuerrot.
Ausdruck ihrer brennenden Liebe.
Entzündet womöglich in Dankbarkeit,
für die einstige Heilung vom Blutfluss
(so sagt es die Legende).
Schon möglich,
dass sich in ihrem Tuch ein Bild abzeichnete,
ein Antlitz aus Schmutz, Schweiß und Blut.
Bedeutsamer jedoch,
was sich wohl in ihr Herz einbrannte:
ein Gott, der uns im Leiden begegnet.
Wo der Mensch das Abbild Gottes ist,
da ist der Geringste das Spiegelbild Jesu.
Und so bekommt das Schweißtuch der Veronica
buchstäblich Hände: schwarze, verletzte, verbundene Hände,
die uns eine zerbrochene leere Schale bittend und flehend hinhalten,
stellvertretend für alle Geschundenen, Erniedrigten, Notleidenden.
Die aber haben es immer schwerer durchzudringen,
wo sich jeder und jede gerne zum „Opfer“ erklärt,
um daraus billig Kapital zu schlagen.
Das böse Wort von der „Opfer-Olympiade“ macht in diesen Tagen die Runde,
in der der Grad der vermeintlichen Benachteiligung zur moralin-sauren Waffe wird,
um sich im Kampf um Aufmerksamkeit und Einfluss perfide zu übertrumpfen.
Wo aber alle Opfer sein wollen,
gehen die, die es wirklich sind, unter.
Ihnen fehlen schlicht die Stimmen
in diesem Chor der Heischenden.
Stumm und mit verdecktem Mund
zeigt uns Veronica das „wahre Bild“,
die „vera iconica“ hinter dem sie
und für das sie steht.
Mehr und mehr verschwimmen die Grenzen
zwischen ihr, dem Herrn und dem Notleidenden.
Denn in Christus finden sie zueinander,
die barmherzigen und die bedürftigen,
die gebenden und die empfangenden
Hände und Menschen.
Die Welt kennt nicht nur Täter und Opfer,
Zuschauer oder Wegschauer.
Sie kennt auch Veronica.
Ursprünglich nur eine Legende.
Aber das ist sie nicht geblieben.
Sie wurde lebendig in jedem Akt der Zuwendung,
das der Welt das „wahre Bild“ unseres Gottes zeigt.
Veronica – das müssten wir alle sein.
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